Björn Clemens – Erlebnis Eisenbahnstraße

21 und 30 Jahre WGT

 

Wer seit 21 Jahren mehr oder weniger regelmäßig an einem viertägigen Großfestival wie dem Wave-Gotik-Treffen, kurz WGT, teilnimmt, das seinerseits nunmehr das 30. Jubiläum feiern konnte, sieht sich zwangsläufig gefordert, einen bilanzierenden Rückblick zu zeichnen. Die Gefahr solcher Reminiszenzen liegt in einer Nostalgiesierung des eigenen Erlebens, nicht nur weil man diese 21 Jahre älter geworden ist (was der Lebensspanne manch jüngerer Festival-Besucher entspricht), sondern auch, weil sich alle Ereignisse abnutzen, die in einem festen Turnus wiederkehren. Was bei den ersten Malen den prickelnden Reiz des Neuen ausstrahlt, wird im Laufe der Jahre zunehmend zum Gewohnheitsritual, mit Anflügen von  Routine und hin und wieder selbst Langeweile. Hinzu kommt, dass das WGT einige objektive Einbußen hat hinnehmen müssen. Beispielsweise finden in der Parkbühne im Clara-Zetkin-Park keine Konzerte mehr statt, wodurch eine besonders chillige Location verloren gegangen ist. Ein herber Verlust ist darüber hinaus durch die Schließung der Kult-Kneipe Sixtina eingetreten. Im düsteren Szeneambiente dieser Absintheria, in dem auch Klein-Konzerte und Lesungen stattfanden, kam die Stimmung des WGT gewissermaßen zu sich selbst. Ähnliches galt bis 2012 für das heidnische Dorf nahe des Agra-Geländes. War bis zu diesem Zeitpunkt das Gelände des Mittelaltermarktes ein lauschiger Platz, an dem man in gemütlicher Runde die Seele baumeln lassen konnte, ist es, seitdem dort alljährlich eine große Stahlbühne, anstelle der vorherigen hölzernen aufgestellt wird, ein überlaufener und auch lauter Ort geworden, dem nicht mehr das „gewisse Etwas“ innewohnt. Unverständlicherweise hatte 2023 auch das Treffen-Cafe´ nicht geöffnet, das im Agra-Gelände die Konzerthalle mit der Verkaufshalle verbindet. Dort konnte der Festival-Gast bei Kaffee und Kuchen oder auch Obst und Bier etwas vom Party-Marathon ausruhen, während er andere Schwarzgewandete betrachtete oder die eine oder andere Bekanntschaft schloss. Schließlich und endlich ist auch die Gegenleistung für die inzwischen deutlich erhöhten Karten-Preise dürftiger geworden: War früher noch das Treffen-Buch „Pfingstbote“ samt einer CD im Eintrittspreis inbegriffen, so muss man jetzt das Buch extra bezahlen, während es eine CD überhaupt nicht mehr gibt.

 

Als wir Anfang der 2000er das WGT für uns entdeckten, überkam uns der Schwall der damals neuen und ungewohnten Eindrücke mit einer solchen Wucht, dass man schier erschlagen wurde. Kleidung, Musik, bizarre Gestalten, met- und biergeschwängerte Stimmung, umrahmt vom allgegenwärtigen Duft des Patschuli-Parfums, ergaben ein einzigartiges Amalgam aus Heiterkeit, Partyrausch und Gemeinschaftsgefühl. Das Besondere des WGT bestand indessen nicht nur in seinem speziellen Party-Charakter, sondern in dessen kulturellem Hintergrund. Die Gothic-Szene, die sich in viele Stile und Musikrichtungen auffächert, orientiert sich zu einem großen Teil an der Geisteshaltung der Romantik mit ihrer antirationalistischen Ausrichtung, ihrer Dichtung, ihrer Traditionsverbundenheit usw.. Sie wurde von uns daher immer als Gegenentwurf zu der trivialen Geschäftsidee der BRD, die sich zum besten Deutschland aller Zeiten ausgewuchert hat, empfunden. All das war und ist eingebettet in den genius loci einer Halbmillionenstadt, die durch geschlossene Altbauviertel in einem immer noch morbiden ostischen Charme besticht, schöne Parkanalgen aufweist, gewachsene Strukturen ohne westdeutsche Einheitsarchitektur besitzt und die vor allem bis weit nach 2010 einen für Städte dieser Größenordnung außergewöhnlichen deutschen Charakter bewahrt hatte. Im Jahr 2004 schrieb ich aufgrund all dessen:

 

Dabei ist hervorzuheben, daß die schwarze Szene an sich nicht „rechts“ ist, genau so wenig wie die Mehrzahl der Gruppen. Das entscheidende ist nicht die politische Ausrichtung, die hier so vielgestaltig ist, wie auch sonst in der Bevölkerung; sondern die subkulturelle Alternativität. Der Zeitgeist hält hier seine Auszeit. Die Farbe schwarz präsentiert das Gegentum gegen Mc Donalds und Dönerbuden, gegen Weltbank und one world, gegen die Reduzierung des Menschen auf den Verbraucher, gegen die Götzenreligion des Liberalkapitalismus.

 

Mag die schwarze Welt nun Teil einer kulturellen Gegenoffensive sein oder eine der letzten Rückzugsbastionen: wenn im heidnischen Dorf auf dem Festivalgelände im Kreise der Kameraden beim Klang mittelalterlicher Melodien die Nachmittagssonne durch die Baumkrone bricht, bekommt man als Deutscher eine Gänsehaut und fühlt sich gestärkt im Kampf gegen Börse und Zuwanderung!

 

Zusammenfassend zeichnet(e) sich das WGT also durch folgende vier Faktoren aus:

 

  • Den Festivalfaktor mit seinen Konzerten und Veranstaltungen
  • Den Gemeinschaftsfaktor
  • Den Kulturfaktor
  • Den Leipzigfaktor

 

Im Jahr 30 gab es neben den schon genannten Einschnitten auch  auf musikalischem Gebiet einige leichte Enttäuschungen. So bot die Gruppe Deine Lakaien, eines der Zugpferde im Programm, einen schwachen Auftritt. Bandleader Veljanov wirkte uninspiriert, brachte nur aufgewärmte alte Stücke in einer wenig attraktiven Performance. Die Agra-Halle leerte sich dementsprechend während des Konzerts zusehends. Das Heidnische Dorf präsentiert, wie erwähnt, inzwischen zunehmend Krach-Bands, hat dafür aber eine etwas größere Bandbreite. Wahrscheinlich deshalb ist es dort auch in den letzten Jahren an Zuschauern zum Bersten voll. Gut hingegen die Auftritte von Hekate und Fire and Ice am Neofolk-Abend. Auch die abschließende Darbietung von Apoptose mitsamt des Fanfarencorps Leipzig (dieses Jahr in Gestalt der Trommler-Abteilung) am Pfingstmontag geriet sehr beeindruckend. Allerdings umfasste auch ihre Stückauswahl kaum etwas, das man nicht schon in früheren Jahren gehört hätte. Die Elektro-Fans müssen allerdings auf ihre Kosten gekommen sein, wie compact-online zu berichten weiß, https://www.compact-online.de/wgt-2023-rendezvous-mit-tiroler-waldgeistern/ .

 

Die Stadt Leipzig selbst bietet ebenfalls nicht mehr das Überfremdungs-Refugium wie ehedem. Erlebniswert hat in dieser Hinsicht ein Besuch in der Eisenbahnstraße in der östlichen Innenstadt. Hier finden sich ein ganzer Straßenzug mit Geschäften ohne deutsche Beschriftung und Menschen, die keinen Ton in der Landessprache verstehen. Für BRD-Westverhältnisse wäre das immer noch wenig, doch lässt die an dieser Stelle sichtbare Entwicklung nichts Gutes auch für den Osten ahnen. Ganz am Ende der Straße, an der Kreuzung zur Hermann-Liebmann-Straße, taucht dann ein versteckter kleiner Kiosk auf, so wie man ihn sich in der Großstadt vorstellt. Dort kaufen ältere Frauen, die nicht wegen ihrer Mode aus der Honecker-Zeit oder ihres sächsischen Akzents als Fremdkörper wirken (beides macht sie eher sympathisch, aber vielleicht aus musealen Gründen), sondern wegen ihrer offensichtlichen Minderheitenstellung, ihr „Neues Blatt“ oder geben ihren Lotto-Schein ab. Das greifbare Verlorensein solcher Menschen im ehemals heimatlichen Umfeld erweckt bittere Gefühle.

 

Allerdings ergaben sich in Leipzig auch andere Bilder, so an einer Showbühne am Wilhelm-Leuschner Platz am Sonntagnachmittag des 30. Mai, als ein kleiner, vielleicht achtjähriger Steppke mit neugierigen Blicken über das Gelände lief. Sein schwarzes T-Shirt zeigte, dass er einfach dabei sein wollte, weil die Gemeinschaft nun einmal an diesem Wochenende schwarz trägt, und seine zwei wenig älteren Schwestern sowie Vater und Mutter der insgesamt fünfköpfigen Familie zeigten, dass doch noch ein wenig Glut unter der Asche brennt. Wer wollte nicht bei dem Anblick einer solch intakten, nicht vom Genderwahn befallenen, Natürlichkeit, ein sentimentales Lächeln unterdrücken?  Schließlich zeigte die 73jährige heitere und stark angeheiterte Dame, die einen Tag zuvor im heidnischen Dorf rücklings im Rausch der Getränke von der Bank fiel, dass ein Gemeinschaftsgefühl solidarisieren kann: sie fühlten sich offensichtlich ebenso hingezogen zu ihr, dass sie deren Teil sein wollten. Demgegenüber lag der Fremdenanteil unter den Festival-Aktivisten immer noch kaum oberhalb von Null.

 

Am meisten von allen oben genannten Faktoren scheint indessen der kulturelle, von dem wir uns seinerzeit einen wahren geistig-spirituellen und letztendlich auch politischen Aufbruch versprochen hatten, entschwunden zu sein. Man kann fragen, ob unsere diesbezüglichen Erwartungen nicht übergezogen gewesen sein mögen. Das möchte ich jedoch nach wie vor verneinen. Denn die geistig-kulturelle Erneuerung eines Volkes geschieht selten dadurch, dass plötzlich alle Angehörige einer als Nischengruppe gestarteten Bewegung beitreten (Im Falle des Christentums war dies aber genau so.). Auch ein Reichstagssturm der Gothics lag von Beginn an im Bereich des weniger Wahrscheinlichen. Was aber möglich war, wäre die zahlenmäßig signifikante Infiltration deutscher Kulturschaffender, ggfs. auch Politiker, (manche  Abgeordnete verschiedener Parlamentsstufen, die sich auf dem Festgelände getummelt haben, könnte ich benennen) oder sonstiger Multiplikatoren gewesen, die das geistige Klima eines Landes prägen. Immerhin hat mit Rolf Schilling beim WGT 2007 und 2013 zwei mal ein herausragender deutschen Dichter gesprochen. Seine Auftritte in der Krypta des Völkerschlachtdenkmals, ergänzt durch Musikeinlagen der Gruppe Barditus, waren kulturelle Höhepunkt von einer Strahlkraft, die man andernorts vergeblich sucht.

 

Leider hat eine solche Neubestimmung nicht stattgefunden, so wie das gesamte Land seit dem 3. Oktober 1990 von der geistig-kulturellen Erneuerung verschont bleibt. Dass das Potential dazu aus dem Umfeld der Neoromantik durchaus vorhanden war, belegen die im ersten Jahrzehnt dieses Jahrtausends nicht seltenen, sondern zahlreichen, angsterfüllten Berichte der Mainstream-Medien, die vor einer Symbiose aus aus der schwarzen Szene hervorgehendem Aufbruch und traditionalem Denken warnten. Zu nennen wären etwa der Artikel „Nur weiße Haut unter der schwarzen Kleidung – Rechtsextreme in der Gothic-Szene“ des bewährten Hetz-Portals „Beltower“ (2010) https://www.belltower.news/nur-weisse-haut-unter-der-schwarzen-kleidung-rechtsextreme-in-der-gothic-szene-32624/ oder das bereits im Jahr 2002 erschienene ausführliche Buch „Ästhetische Mobilmachung“ des gleichfalls bekannten Propagandisten Andreas Speit. Selbst der Spiegel brachte in einem Online-Artikel vom 16.02.2009 https://www.spiegel.de/spiegel/a-607625.html die Möglichkeit einer geistigen Gegenrevolution mit dem Frontsänger der Gruppe von Thronstahl, Josef Klumb, in Zusammenhang. Klumb hatte übrigens zehn Jahre zuvor mit der damaligen Band Weißglut kurz vor dem Durchbruch gestanden, bevor er aus politischen Gründen eliminiert wurde.   

 

Dass sich das Potential nicht entfaltet hat, liegt zum einen an einer verkrusteten, macht- und geldgierigen Herrschaftskaste, die nicht nur keine Kraft und keine Intelligenz hat, um Deutschland zu erneuern, sondern die ein solches Ansinnen geradezu scheut wie der Teufel das Weihwasser, weil sie zurecht befürchtet, durch die Erneuerung hinweggespült zu werden. Sie riegelt die Gesellschaft hermetisch gegen alle Einflüsse außerhalb des woken, multikulturellen, gendergerechten Einheitsbreies ab und stößt jeden, der es wagt, vom Mainstream einen Millimeter abzuweichen, per gesellschaftlicher Inquisition aus ihm aus. Beispiele wie Uwe Steimle, Uwe Tellkamp oder Nikolai Binner, um nur wenige zu nennen, belegen das. Zum anderen liegt es an der politischen Bewusstlosigkeit des deutschen Volkes, namentlich der bürgerlichen Rechten, einschließlich ihres parlamentarischen Armes, die seit eh und je bis heute hauptsächlich weiß, was sie nicht will (Überfremdung, Inflation, Kriminalität), aber nicht weiß, was sie will, abgesehen, vom unbeeinträchtigten Betreiben ihrer Geschäfte.  Endlich – vielleicht ist das der wichtigste Gesichtspunkt – liegt es an der Generation Waschlappen, die wir zum Überdruss während der abgelaufenen Corona-Inszenierung kennenlernen durften. Sie feiert nicht auf dem Festgelände, sondern im WLAN, sie findet Freunde nicht in der Wirklichkeit, sondern im Netz, sie liest kein Buch, sondern 10-Worte-Postings, sie lässt sich von den Eltern im SUV zur Klimademo fahren und sie ist beleidigt, wenn sie in der Ausbildung oder am Arbeitsplatz nicht verhätschelt, sondern gefordert wird. Dementsprechend gewinnt man auf dem Agra-Gelände inzwischen weniger den Eindruck eines Jugendtreffens als den eines Treffens Junggebliebener oder solcher, die es mimen wollen; getreu dem Motto eines Studentenliedes „…und wenn Du jung bleibst mit den Jungen, dann war es recht(s), dann stirbst Du nie!“  Somit bleibt, wer aus der neoromantischen Bewegung prägende Impulse erfahren hat, als Waldgänger unterwegs, wenn er oder sie immer noch nicht die Hoffnung auf neue Ufer aufgegeben hat. Doch besser Waldgänger als Wüstenfuchs.

 

Trotz allem bleibt das WGT eine Quelle der Erbauung. Denn der Auszeitfaktor, darin bestehend, in der schönsten Großstadt Deutschlands für vier bis fünf Tage aus dem Tretrad der Tagesgeschäfte auszusteigen, Freunde aus der Diaspora (wieder- ) zu treffen, gute Gespräche zu führen, den Vögeln und dem Rauschen der Bäume auf dem Zeltplatz zu lauschen oder sich von martialischen Rhythmen verleiten zu lassen, an eine deutsche Zukunft zu glauben, ist nach wie vor Balsam für die Seele, wie man ihn sonst selten findet! 

            

  1. Mai/01. Juni 2023

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