Vorwort Sander

Vorwort zur „Abendbläue“

Im Jahre 1963 recherchierte ich in Zürich im Auftrag des Walter Verlags, Olten, für eine revolutionsgeschichtliche Quellenedition. Ich fuhr in dieser Zeit oft nach Basel zu Edgar Salin, um mich mit ihm quer durch Raum und Zeit zu unterhalten. Als ich ihm einmal von meinen negativen Erfahrungen in den beiden deutschen Besatzungsstaaten berichtete, erklärte mir der emeritierte Ordinarius für politische Ökonomie und Staatslehre, der in jungen Jahren von Stefan George geprägt worden war, als das Krebsübel der Bonner Republik den feigen Opportunismus der Eliten. Dieser Habitus setzte sich durch, weil für das Denken und das Handeln nach 1945 feste Grundlagen fehlten. Er entsproß der Stunde Null.

Diese raison d`etre hat bis zum heutigen Tage jede neue Orientierung für einen eigenen politischen Ansatz verhindert. Das war nicht nur der Umerziehung zu verdanken. Die Niederlagen in den beiden Weltkriegen hatten Gemüt und Geist der Deutschen so erschüttert, dass ihnen durchweg der Wille zum Widerstand fehlte. Ernst Jüngers Notiz in seinen Kirchhorster Blättern: „Von einer solchen Niederlage erholt man sich nicht mehr“ war repräsentativ. In den Briefen deutscher Kriegsgefangener an ihre Familien dominierten zwei Grundhaltungen: erstens, wir wollen uns jetzt nicht mehr widersetzen, sondern lieber mit den stärkeren Bataillonen marschieren – zweitens, wir haben gelernt, dass es sinnlos ist, sich für etwas einzusetzen, was oberhalb der eigenen Interessen liegt, laßt uns lieber blühende Gärten für unsere Kinder errichten. Das erklärt die Unterwürfigkeit und die Fußtritte, die jedem versetzt wurden, der nicht mitmachte.

Nichtsdestotrotz gab es plötzlich auf der Schwelle zu den achtziger Jahren eine Renaissance des nationalen Denkens in Deutschland. Es erschienen von 1979 an unabhängig von einander die „Geschichte der Deutschen“ von Hellmut Diwald, „Die Besiegten von 1945“ von Hans-Joachim Arndt, „Mut zur Macht“ von Heinrich Jordis von Lohausen, „Deutschland, wo bist Du?“ von Gottfried Dietze, mein „nationaler Imperativ“, mitgerissen davon „Die deutsche Nation“ von Bernard Willms, umsäumt von Werken Robert Hepps, Gerd Bergfleths, Hartmut Langes, Wolf Kalz´ gefolgt von Betrachtungen Hans Jürgen Syberbergs, Dietmar Odilo Pauls, Wolfgang Lazars´und Botho Strauß´.

Der Auftakt blieb wirkungslos, weil er sofort ausgegrenzt wurde und die nationalen Zirkel dem imposanten Aufschwung nicht folgten, weil sie unterwandert waren, die Impulse zur Mobilmachung nicht begriffen, nicht umsetzen konnten oder aus Eigenbrötelei nicht wollten. „Wir brauchen uns um nichts mehr zu kümmern, nichts mehr lesen. Wir sind es jetzt, die die Politik machen“, hörte ich von den Republikanern, als sie in den Stuttgarter Landtag gewählt wurden und dort – folgerichtig scheiterten.

Es blieb jedoch, wie alles, was einmal in die geistige Atmosphäre gespeist wird, nicht ohne Folgen. Als im November 1989 mit der Implosion der DDR plötzlich die Stunde zur Vereinigung der beiden Besatzungsstaaten schlug, wären die Deutschen, hüben und drüben, zu einer volkseigenen Politik bereit gewesen, hätten die Eliten sie gewollt. Die Vereinigung, als Wende deklariert, richtete sich indessen im Sinne der stärkeren Bataillone nach den Wünschen der Alliierten, einschließlich der damals noch existierenden Sowjetunion. Die Einheit in der Hand der Klinkenputzer, schrieb ich 1990 in den „Staatsbriefen“, deren 12 Jahrgänge die desaströse Wende in allen wesentlichen Einzelheiten und voraussehbaren Ergebnissen betrachteten. Heute sieht es so aus, als hätten unsere Feinde, die sich als Freunde aufführen, ihr Ziel, das finis Germaniae, erreicht.

Dieser Anschein hat Björn Clemens zu seinem Buchtitel „Abendbläue“ inspiriert. Der Text gehört gleichwohl zu den wenigen hoffnungsspendenden Zeichen, die wir erblicken können. Es gibt dafür viele Anhaltspunkte. Der wichtigste: Die „Typologie der Stunde Null“ knüpft im Format und Niveau wieder an die nationale Renaissance an, die nun schon zwei Jahrzehnte zurückliegt. Sie beschreibt den Niedergang in seiner ganzen Breite, wie er von der Stunde Null heraufgeführt wurde. Da der Verfasser nicht nur Jurist, sondern auch Lyriker ist, erwartet den Leser eine Fülle sprachlicher Reize und gedanklicher Einfälle. Das Buch liest sich wie ein Lexikon, dessen Stichworte nicht historisch, sondern phänomenologisch abgehandelt werden – aus dem Blick von heute.

Die „Abendbläue“ führt Erscheinungen vor, die jeder wahrnehmen kann, der genau hinguckt, betrachtet mit philosophischem und metaphorischem Scharfsinn, der jeden zum Weiterdenken animiert. So kann man sich den Vernunftiker und den Menschenrechtiker, von denen die Herde der Nulldeutschen geführt wird, ohne weiteres als Vernunftbock und Menschenwürdehammel vorstellen. Es sind kurze Essays in erhellenden Sätzen, oft in Aphorismen zugespitzt. Der Stil ist aus Nüchternheit und Wut, Klagen und Exorzitien gefächert. Das Ergebnis sind Analysen und Philippiken, diese aufreißend, jene grundsetzend.

So werden Prämissen wie der lange Weg der Erkenntnis, die Boten des Todes, das schleichende Gift, die dialektische Waage, Zahl und Symbol, die Menschenwürde – Umrahmungen wie Liberalismus, der Westen, Uniform und Kleidung, Entpflichtung, Schuld und Unschuld – Auflagen wie Geschichtsdenken, Gesetz, Justiz, Strafe und ihr Erziehungsgedanke – Institutionelles wie Gerechtigkeit, Nation, Staat und seine Widersacher die Feigheit, die Lüge und das Kapital – und Typen dieses Milieus wie der Politiker, der Bürgerling, der konservative Sackgäßling, der Kapitulant, der Resignant, der Nutznießer, der Fremde, der Antifaschist, der Revolutionär, um nur einige Stichworte zu nennen, abgehandelt.

Das ist alles von der Stunde Null aus sukzessiv ins Werk gesetzt worden. Nicht erst seit 1968, wie die Systemlinge immer noch versichern. Björn Clemens stellt hier nahezu unwiderlegbar fest, dass die 68er sich nicht gegen die BRD wehrten, sondern sie im Sinne ihrer hintergründigen Inauguration der Vollendung zutrieben. Daraus folgt aber auch, dass das System der BRD nicht zu retten ist, wie das seit langem Zeitgenossen wie Hans Olaf Henkel, Ernst Nolte oder Arnulf Baring vorschwebt. Das ist hier tiefer gesehen, ohne zu verzweifeln, wie Bernard Willms, der mir nach der Wende, die den Besatzungsstatus nominell aber nicht de facto aufhob, mitteilte, „alles was jetzt geschieht, hat nichts mit dem zutun, was wir gewollt haben“, und sich wie nach ihm Carsten Kießwetter und Steffen Schonn das Leben nahm.

Die „Abendbläue“ ist, der Farbe nach, ein aufrüttelnder Appell für einen grundsätzlichen Neubeginn, für den noch viele Voraussetzungen geschaffen werden müssen. Vor allem, dass unser Volk wieder mit seiner Identität und seiner Geschichte ins Reine kommt. Dabei müssen wir uns aller Illusionen über die Entwicklung seit 1945 entledigen – über das, was möglich war und nicht möglich war und das was geschehen muß, damit es möglich wird. Von solchen Illusionen ist auch dieses Buch nicht völlig frei geblieben. Björn Clemens durchschaute die Datensymbolik, die das Grundgesetz umrankt: die Annahme des Grundgesetzes am 8.Mai, dem Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation, und seine Verkündigung am 23.Mai, dem Tag der Verhaftung der Regierung Dönitz als der letzten souveränen Reichsregierung, erkannte aber die daraus resultierenden Folgen nicht gänzlich. Das bestimmte seine Sicht auf Adenauer, in dessem Todesjahr 1967 er erst geboren wurde. Er konnte sich über die Nachkriegsjahre nur aus der Literatur informieren, die voll von Legenden und Widersprüchen steckt, weil sie sich nie der realen Gestalt der Bonner Republik gestellt hat.

Überdies war Adenauer ein trick- und listenreicher Politiker, dessen Äußerungen oft zweckgebunden gewesen sind. Hinzu kamen Desinformationen von den Alliierten, um den Deutschen weiszumachen, dass sie das, worunter sie zunehmend litten, selbst verschuldeten. So wurde ihnen suggeriert, die Umerziehung, die schon vor Kriegsende in den USA beschlossen und programmiert worden war, sei auf Verlangen Adenauers eingeführt worden. Das behauptete ein Dokument über Verhandlungen Adenauers mit dem US-Geheimdienst im Jahre 1945, das in der „Welt am Sonntag“ am 5.Januar 1999 veröffentlicht wurde. Und so wurde Adenauer auch als Hauptschuldiger für die deutsche Teilung bezeichnete, weil die Ablehnung der umstrittenen Stalin-Note 1952 allein auf sein Konto gegangen war, was unglaubwürdig wird, wenn man an die Manöver denkt, mit denen London und Paris 1989 die Wiedervereinigung blockieren wollten.

Die erste Bonner Regierungsgeneration war sich über die reale Lage völlig im Klaren. Von Adenauer ist der Satz überliefert: „Wir sind keine Mandatare des deutschen Volkes, wir haben den Auftrag von den Alliierten.“ Carlo Schmid bezeichnete in seiner Rede am 8.September 1948 vor dem Parlamentarischen Rat die entstehende BRD als „Organisationsform einer Modalität der Fremdherrschaft.“ Das ist der Ausgangspunkt und das Kriterium für die Beurteilung der deutschen Nachkriegsgeschichte, in der die Politiker die Fesseln lockerten, bis sie sich willenlos unterwarfen. Die Amerikaner haben, gelernt aus den Folgen von Versailles, auf die biologische Lösung gesetzt. Sie ließen die Lockerung der Fesseln zu, um den Bonner Politikern für eine Zeitlang die Gelegenheit zu geben, ihrem Volk gegenüber das Gesicht zu wahren, und griffen ein, wenn sie ihnen zu weit gingen.

Der amerikanische Historiker Gordon A. Craig hat in seinem Aufsatz „Die starke Hand am Rad der Geschichte“, „Süddeutsche Zeitung“ vom 2./3.Mai 1992 Adenauer als einen virtuosen und verantwortungsbewussten Kanzler bezeichnet und über seine Politik geschrieben: „Ganz offensichtlich lag im nationalen Interesse Deutschlands eine Politik der Zusammenarbeit mit dem Westen, mit dem Ziel, auf dem Verhandlungsweg ein Ende der Politik der industriellen Demontage und eine schrittweise Rückkehr zur vollen staatlichen Souveränität der Bundesrepublik Deutschland zu erreichen.“ Leider teilte er in diesem Text nicht mit, dass Adenauers letzte Legislaturperiode von Washington, wie wir aus Henry Kissingers Memoiren wissen, vorzeitig beendet wurde, weil seine Politik dem Weißen Haus nicht mehr passte.

Adenauer war, wie es Clemens noch dünkt, kein Rheinbundpolitiker. Das hatte schon der Kieler Historiker Karl Dietrich Erdmann widerlegt. Wer es nicht glauben will, halte sich an Carl Schmitt, der es mir aus seinen Beziehungen zu Adenauer Anfang der zwanziger Jahre in Köln bestätigte. Die Westbindung war keine Strategie sondern eine Taktik. Mit ihr führte er nämlich die Politik durch, die das Kabinett Dönitz als letzte unabhängige deutsche Regierung in Mürwick vor ihrer Verhaftuing noch für die nächste Zukunft konzipiert hatte. Eine Neutralität erschien nicht möglich. Im anbrechenden Ost-West-Konflikt war wegen des brutalen Einmarsches der russischen Truppen ein Arrangement mit Moskau nicht zu vermitteln. Es blieb nur ein Bündnis mit den Westmächten – mit dem Ziel, wieder zu Waffen zu kommen und schrittweise die Souveränität wieder zu erstreiten. Es ist nur aus biographischen Gründen interessant, ob Adenauer dieses Konzept bekannt war oder ob er selbst nach einer konkreten Lageanalyse so handelte. Dass es sich bis zum Schluß daran hielt, bezeugt sein verzweifelter Ausruf zur Unterzeichnung des Atombombensperrvertrages durch seine Nachfolger, den er als „Superversailles“ bezeichnete.

Adenauer war sich bewusst, dass in der realen Nachkriegslage nur begrenzte Ziele zu erreichen waren. Das bedeutete nicht, dass er Ziele, die darüber hinausgingen, fallengelasen hätte. Er hatte weder die deutsche Einheit noch die Gebiete jenseits von Oder und Neiße aufgegeben. Außer ihm wäre es keinem Politiker damals gelungen, das Saargebiet den Franzosen zu entreißen. Der trickreiche Alte aus Rhöndorf kam den Franzosen entgegen, um ihre Zustimmung für eine Volksabstimmung erhalten. Im Hintergrund finanzierte er, wie Franz Josef Strauss in seinen Memoiren berichtete, die Kampagne seines Gegners gegen den Landesverrat – mit dem gewünschten Ergebnis.

Adenauer ließ sich nicht einbinden. Er setzte auf die Amerikaner, weil sie ihm weniger deutschfeindlich erschienen als die Engländer und die Franzosen. Als sich das in der Kennedy-Ära änderte, suchte er durch ein Bündnis mit dem Frankreich des Generals de Gaulle dem wachsenden Druck aus Washington zu entgehen. Es war eine richtige Entscheidung, denn nach Anschlägen auf Synagogen, die ausländische Geheimdienste inszenierten, zogen die Fesseln der Vergangenheitsbewältigung wieder an. Es war Kennedy, der 1961 in Wien mit Chrustschow die Mauer beschloß und nach ihrem Bau Lucius Clay, . den letzten Hohen Kommissar, nach Bonn schickte, um den deutschen Eliten die neue amerikanische Ostpolitik zu erklären, nach der es keine Wiedervereinigung mehr gäbe sondern nur noch eine Politik der kleinen Schritte für menschliche Erleichterungen – was später Willy Brandt als seine neue Ostpolitik ausgab. Adenauer hatte sich freilich von de Gaulle zu viel erhofft, dessen Freundschaft mit der BRD auf der deutschen Teilung beruhte; hätte er 1989 anders als Mitterand reagiert? Es war nicht allein der Blick auf die schwachen Nachfolger, der Adenauer, wie mir Winfried Martini nach seinem letzten Besuch in Rhöndorf erzählte, in tiefer Resignation sterben ließ.

Dieser lange Exkurs dient weniger der Korrektur eines Irrtums – welches Buch ist frei von einem Irrtum? – als der Vorbereitung zu einem deutschen Neuanfang, der nur gelingen kann, wenn er aus konkreten Lageanalysen – dieser Begriff stammt übrigens von Hans-Joachim Arndt – hervorgeht und sich nicht von Illusionen einfangen lässt.

Wir befinden uns nach wie vor fest im Griff von Besatzungsmächten, die eine Perepetie nicht zulassen. Bis 1968 hatten die Amerikaner den deutschen Brief- und Telefonverkehr unter Kontrolle, die nicht aufhörte, als der Verfassungsschutz diesen Dienst stellvertretend übernahm. Es ist aber möglich und notwendig, den Typus der Stunde Null zu überwinden, der schon wankt. Es ist kein Zufall, wenn im letzten amerikanischen Wahlkampf in verächtlicher Weise von den feigen Deutschen die Rede war, die den Amerikanern so nützlich waren.

Die Bundesrepublik, in der Weltfinanzkrise an den Abgrund geraten, wird am Ende das Schicksal der DDR wiederholen. Es neigte sich, als sich die Deutschen seit 1985 nicht mehr scheuten, ihre Meinung öffentlich zu äußern und zu diskutieren. Das führte noch nicht zum Sturz des bankrotten Systems. Es implodierte erst, als die politische und wirtschaftliche Krise der UdSSR eine militärische Intervention ausschloß. Zur Zeit wird die USA von einer ähnlichen Krise heimgesucht. Ich hoffe, dass die „Abendbläue“ von Björn Clemens dazu beiträgt, daß nach der Implosion der BRD nicht wieder, wie nach dem Ende der DDR, Wendehälse, die auch Schaden anrichten, wenn es keine stärkeren Bataillone mehr gibt, die Macht ergreifen.

Fürstenwalde/Spree, im Februar 2010

Hans-Dietrich Sander