In Liebe zu Volk und Heimat

Wenn im Fernsehprogramm ein Liebesfilm angekündigt wird, erwartet der Zuschauer alles Mögliche, aber mit Sicherheit keine Geschichte über das Augusterlebnis von 1914. Überhaupt scheint der Begriff „Vaterlandsliebe“ eine Liebe im übertragenen Sinn zu bedeuten, wohingegen die „eigentliche“ Liebe die innige Verbindung zweier Menschen darstellen soll, die an Intensität über jede Freundschaft hinausgeht und zu wesentlichen Teilen vom erotischen Faktor geprägt wird. Den Kritikern galt die Vaterlandsliebe deshalb seit jeher als falsches Pathos, welches im besten Fall eine lächerliche Verklärung, im schlimmeren und deutschen Fall aber die Vorbereitung eines Angriffskrieges oder gar die Herbeiführung von Auschwitz bedeute. Dem früheren Bundespräsidenten Gustav Heinemann schreibt man zu, die angebliche Begriffsklitterung mit dem Bonmot entlarvt zu haben, „ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau.“ [1]

Da wundert es nicht wenig 

festzustellen, dass eben diese Vaterlandsliebe in Deutschland nicht nur Gesetzesrang sondern sogar Verfassungsrang beanspruchen darf, so etwa in Nordrhein-Westfalen, wo sie ganz unironisch als „Liebe zu Volk und Heimat“ in Artikel 7, der die Erziehungsziele festlegt, auftaucht. Vollständig lautet er:

(1) Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor der Würde des Menschen und Bereitschaft zum sozialen Handeln zu wecken, ist vornehmstes Ziel der Erziehung.

(2) Die Jugend soll erzogen werden im Geiste der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit, zur Duldsamkeit und zur Achtung vor der Überzeugung des anderen, zur Verantwortung für Tiere und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, in Liebe zu Volk und Heimat, zur Völkergemeinschaft und Friedensgesinnung.

Wenn diese Liebe neben dem Geist der Menschlichkeit, der Völkergemeinschaft und anderen eigens erwähnt wird, kommt ihr auch eine eigenständige Bedeutung zu, die sich nicht in einer allgemeinen Toleranzbeschwörung verliert; nein: Liebe zu Volk und Heimat, sind tatsächlich das, was Patrioten darunter verstehen, die positive Verbundenheit zu Stamm und Scholle. Aus den juristischen Kommentaren zu diesem Passus geht das recht klar hervor. So liest man dort:

„Verfassungsintention ist die Identifikation mit Volk und Heimat, d.h. eine positive Einstellung zur Herkunft aus und zur Zugehörigkeit zu einer Schicksalsgemeinschaft mit eigener Geschichte, Tradition, Prägung und Kultur.“[2]

Bei so viel Wagemut ist es natürlich erforderlich, dass der Kommentator sogleich im nächsten Satz betont, dass eine nationalistische Überhöhung des deutschen Volkes damit nicht verbunden sei. Immerhin resümiert er aber, dass die Liebe zu Volk und Heimat weiterhin ein aktuelles Erziehungsziel sei.

Die NRW-Verfassung heiligt damit Dinge, die als Gegenbegriffe zu den Paradigmen des bundesrepublikanischen Liberalismus gelten müssen: Gebundenheit statt zielloser Freizügigkeit, Ort statt Standort, Bodenhaftung statt universaler Austauschbarkeit. Um so mehr erstaunt es, dass in der gegenwärtigen Debatte um eine Verfassungsänderung diese beiden Erziehungsziele nicht unter das Fallbeil des demokratischen Konsenses und der Willkommenskultur gelegt werden sollen, wo sie ja schon deshalb hingehörten, weil ein positives Bekenntnis zum eigenen Volk eine desintegrierende Wirkung auf die Migranten ausübt, die in unser Land strömen, um unsere Renten zu sichern. Immerhin haben sich die Demokraten schnell darauf geeinigt, das deutsche Volk aus der Eidesformel des Artikel 53 LV zu eliminieren, wo es künftig heißen soll, der Ministerpräsident habe dem Wohle des Landes Nordrhein-Westfalen zu dienen.[3]

Der Kommentar zur NRW-Landesverfassung bewegt sich damit auf der im Grunde einhelligen Linie derjenigen, die versuchen, dem Volksbegriff eine inhaltliche Kontur zu geben. Denn formal ist Volk nur eines der rechtstechnischen Elemente, das im Sinne der Drei-Elemente-Lehre des Staatsrechtlers Georg Jellinek[4] als Staatsvolk neben dem Staatsgebiet und der Staatsgewalt zu den Voraussetzungen eines Staates gehört. Diese Lehre sieht im Volk einen juristischen Begriff, bei dem erst die juristische Organisation des Staates die Vielheit der einzelnen zum Volk verbindet.[5]Doch nach dieser, auch in Art. 116 des Grundgesetzes aufzufindenden, Definition wäre Volk nichts anderes als die Summe der Staatsbürger, und wenn der Gesetzgeber, was er in Deutschland im Jahre 1999 frevelhafterweise getan hat, sich Antinomien wie eine doppelte Staatsbürgerschaft ausdenkt oder auf andere phantasievolle Weise die massenhafte Einbürgerung Fremder fördert, dann kann letztlich Jeder zum Deutschen werden, wodurch der Begriff inhaltsleer würde. Bezeichnenderweise unterscheidet das Grundgesetz zwischen Staatsangehörigkeit und Volkszugehörigkeit, wenn es in Absatz 1 des genannten Artikels lautet:

„Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat.“

Wer also wissen will, was Volk wirklich ist, muss über das Juristische hinaus zum Eigentlichen vordringen. Bereits 1911 formulierte der liberale Historiker Friedrich Meinecke:

„Gemeinsamer Wohnsitz, gemeinsame Abstammung – oder genauer gesagt, da es keine im anthropologischen Sinne rassenreinen Nationen gibt –, gemeinsame oder ähnliche Blutmischung, gemeinsame Sprache, gemeinsames geistiges Leben, gemeinsamer Staatsverband oder Föderation mehrerer gleichartiger Staaten – alles das können wichtige und wesentliche Merkmale einer Nation sein,… “[6]

Eine solche Definition aus Kaisers Zeiten wundert wenig. Schon bemerkenswerter ist, wie ähnlich Roman Herzog, nachmaliger Präsident des Bundsverfassungsgerichts und Bundespräsident im Jahre 1971 über diese Frage in einem Lehrbuch schrieb:

„Das, was die Gruppensoziologie als Wir-Gefühl oder Wir-Bewußtsein bezeichnet, ist also das eigentliche Konstituens eines Volkes, wenn dabei auch die Einschränkung gemacht werden muss, dass es sich nicht um ein irgendwie geartetes Zusammengehörigkeitsgefühl handeln darf, wie es jede Familie und jeder Unterhaltungsverein entwickelt, sondern gerade um ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das auf völkische [sic!] Zusammengehörigkeit gerichtet ist.“[7]

Damit steht Herzog nicht allein. Sein Professorenkollege, der emeritierte Erlanger Staatsrechtslehrer Reinhold Zippelius definierte noch 1994:

„Als Volk im soziologischen Sinn kann man jede Gemeinschaft von Menschen bezeichnen, die sich durch ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl verbunden weiß, das seinerseits durch eine Vielzahl von Faktoren fundiert ist, z.B. durch die rassische Artverwandtschaft [!], die Gemeinschaft der Kultur und die politische Schicksalsgemeinschaft.“[8]

Zippelius nimmt nicht nur ein noch verboteneres Wort in den Mund als Herzog, er weist dem Topos „Völkisches Zusammenhörigkeitsgefühl“ sogar einen eigenen Gliederungspunkt in dem Kapitel „Das Staatsvolk“ seiner Staatslehre zu. Dabei weist er auf die Wichtigkeit des Bekenntnisses als Komponente der Gemeinschaft hin.[9]Dieser Begriff spielt auf die Terminologie des französischen Historikers Ernest Renan an, dem man zuschreibt, einen anderen, nämlich intellektuellen, Volksbegriff geprägt zu haben, bei dem der willentliche Entschluss des Einzelnen dazu führt, der Gesellschaft beizutreten. Das wiederum knüpft an die Lehre vom Gesellschaftsvertrag bzw. vom Staatsvertrag (contract social) von Jean-Jacque Rousseau an. Doch wäre es ein Missverständnis, daraus abzuleiten, dass diese beiden einen anderen Volksbegriff als Herzog, Meinecke oder andere zugrunde legten. Denn Renan scheidet den Begriff der Nation von dem des Volkes. Ihn auf seinen vielzitierten Ausspruch von der Nation als eines täglichen Plebiszits aus einem Vortrag vor der Pariser Sorbonne am 11. März 1882[10] zu beschränken, verkürzt seine Theorie in unzulässiger Weise. Wenn man seine Rede im Ganzen betrachtet, stellt sie sich anders dar: Denn mit seiner Definition, eine Nation sei eine Seele,

„ein geistiges Prinzip. Zwei Dinge, die in Wahrheit nur eins sind, machen diese Seele, dieses geistige Prinzip aus. Eines davon gehört der Vergangenheit an, das andere der Gegenwart. Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, das andere ist das gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch zusammenzuleben, der Wille, das Erbe hochzuhalten, welches man ungeteilt empfangen hat. Der Mensch improvisiert sich nicht. Wie der einzelne ist die Nation der Endpunkt einer langen Vergangenheit von Anstrengungen, von Opfern und von Hingabe. Der Kult der Ahnen ist von allen am legitimsten; die Ahnen haben uns zu dem gemacht, was wir sind, eine heroische Vergangenheit, große Männer, Ruhm (ich meine den wahren) – das ist das soziale Kapital, worauf man eine nationale Idee gründet. Gemeinsamer Ruhm in der Vergangenheit, ein gemeinsames Wollen in der Gegenwart, gemeinsam Großes vollbracht zu haben und es noch vollbringen wollen – das sind die wesentlichen Voraussetzungen, um ein Volk zu sein. Man liebt – im rechten Verhältnis – Opfer, in welche man eingewilligt, Übel, die man erlitten hat. Man liebt das Haus, das man gebaut hat und das man vererbt. Das spartanische Lied: „Wir sind, was ihr gewesen seid; wir werden sein, was ihr seid“, ist in seiner Einfachheit die abgekürzte Hymne jedes Vaterlandes.“

bemüht er die gleichen Anknüpfungspunkte wie die „völkischen“ Denker, nämlich Erbe, Geschichte und Ahnenreihe. Wenn ein solches natürliches Volk zur Nation werden will, bedarf es dazu eines weiteren Schrittes, eben des willentlichen Zusammenschluss in Gestalt des täglichen Plebiszits. Nation ist demnach für Renan eine höhere Kategorie, die, wie er weiter ausführt, etwa in der Zeit der Ägypter noch nicht bestand, die aber das Volk nicht nur nicht als Begriff ersetzt, sondern es viel mehr voraussetzt. Damit schließt er an Rousseau an, der im Gesellschaftsvertrag kaum anders denkt, wenn er definiert, welches Volk in der Lage sei, „das“ Gesetz anzunehmen, also einen Gesellschaftsvertrag zu schließen, der zur Staatsgründung führt, nämlich jenes,

„das durch Ursprung, Interesse und Überlieferung bereits geeint ist.“[11]

(Jedoch ist zuzugeben, dass bei Rousseau wie auch schon bei Montesquieu[12] die geistigen Faktoren bei der Bildung des Volkes im Vordergrund stehen.) Renan ist damit auch wesentlich näher bei Carl Schmitt, der den Staat als politische Einheit eines Volkes [13] nennt, als gemeinhin behauptet wird. Schmitt führt allerdings in seinen Schriften nur rudimentär aus, was er unter Volk versteht; allzu selbstverständlich scheint es ihm zu sein. Immerhin lässt Schmitts Begrifflichkeit keinen Zweifel daran zu, dass sich der Staat vom Volk ableitet und nicht umgekehrt. Volk ist die eigentliche Größe, und wenn das so ist, beantwortet sich die Frage, was „Volk“ ist, wieder aus den hier dargestellten Bestandteilen Abstammung, Geschichte. Überlieferung usw. Bezeichnenderweise setzte die planmäßige Französisierungspolitik, die das Elsaß seines deutschen Charakters entkleiden sollte, erst im Zuge der französischen Revolution ein.[14] Ihr berühmt-berüchtigter ideologischer Henker St. Just soll gesagt haben:

„Die Elsässer begreifen sich als eigenes Völkchen. In Kleidung, Sprache, Sitten und Küche und sogar in der Stunde der Mahlzeiten nahmen sie unsere Feinde, die Deutschen und Österreicher nach. Unter tausend Einwohnern kaum einer, der die Sprache der grande nation versteht, geschweige denn spricht. Kurzum: die Elsässer sind halbe Österreicher.“

Damit wusste das seiner selbst bewusst gewordene Volk der Franzosen aufzuräumen. Nun kann man natürlich durch einen Trick mit dem angeblichen Modell von Renan zu einer anders konstruierten Nation kommen, indem man das tägliche Plebiszit vom Volk löst und auf ein beliebiges Bevölkerungsgemisch anwendet. So könnte zum Beispiel Deutscher werden, wer sich dazu bekennt. Damit bekäme man aber kein neues Volk, sondern lediglich einen neuen Vielvölkerstaat, wie wir ihn im Habsburgerreich oder in Jugoslawien hatten und ihn in der BRD derzeit vorfinden. Die dort lebenden Türken, Afghanen, Araber und sonstigen Völkerschaften mögen dann als Bundesbürger Angehörige der bundesdeutschen Staatsnation sein, Teil des deutschen Volkes sind sie nicht. Nichts bestätigt die Richtigkeit dieser Zusammenhänge mehr, als der Versuch der Vertreter der Auflösung, sie zu verunglimpfen. Wo etwa die Flüchtlinge auf einen narrativen Widerstand stoßen wie im sächsischen Clausnitz, als sich Einheimische einem Bus mit Ankömmlingen entgegenstellten, sprechen die Auflöser von Hass. Mit einem dezidierten Gefühl für den Gefährdetheit seiner Position konstatiert ein Schreiberling der Qualitätspresse:

„Der schallende Ruf „Wir sind ein Volk“ beschreibt eine Art Definition, eine Deutungshoheit, wer das Volk ist; vor allem: wer das Volk nicht ist. Und das waren in dieser Nacht des entfesselten Hasses jene Menschen im Bus, die aus ihrer eigenen Heimat auf der Suche nach Schutz und Obhut geflohen waren. Plötzlich wird das Eindeutige auslegbar. „Wir sind das Volk“ ist mit Blick auf die Flüchtlinge ein Kampfbegriff, eine kollektive Parole, mit der genau in diesem Augenblick eine Nation erfunden wird. Zu ihr gehören nach Meinung der Krakeeler die Bus-Blockierer. Und: zu ihr gehören nicht die Businsassen.“[16]

In der umgekehrten Richtung könnte die Gleichung aber richtig werden: warum soll jemand, der ein ausgesprochenes Negativbekenntnis zu Deutschland abgibt, Teil des Volkes sein, dessen Traditionen, Geschichte usw. er rundheraus ablehnt, oder ihm sogar den Volkstod wünscht wie die SED-Politikerin Christin Löchner, die sich mit folgender E-Mail hervortat:

„Es mag Sie vielleicht überraschen, aber ich bin eine Volksverräterin. Ich liebe und fördere den Volkstod, beglückwünsche Polen für das erlangte Gebiet und die Tschech/innen für die verdiente Ruhe vor den Sudetendeutschen.“[17]

Sie steht neben Armutsgestalten, die nackten Körpers in Dresden „Bomber-Harris do it again“ rufen, sowie ganzen Bataillonen von Nie-Wieder-Deutschland-Schreihälsen. Solche erklärten Volksfeinde mögen noch so saubere Biomasse in sich führen, zum Volk gehören sie nicht. (wie übrigens auch in völkerrechtlicher Hinsicht ein Negativbekenntnis relevant werden kann, so bei der Sezession der Schweiz aus dem Reichsverband 1648.) Es lohnt sich daher, darüber nachzudenken, de lege ferenda für derartige Niederkreaturen die rechtliche Möglichkeit der Ausbürgerung zu schaffen.

Wo stattdessen, um den Bogen zu schließen, ein Zusammengehörigkeits- oder Wir-Gefühl noch lebendig ist, gehört zu den Wurzeln, aus denen es sprießt, jedenfalls auch nach Herzog

„… im Normalfall sicher die gemeinsame Sprache und … die gemeinsame Religion. Mit Sicherheit gehört hierher auch die gemeinsame Abstammung und die gemeinsame Geschichte, wobei es allerdings zu bedenken gilt, dass es sich hier nur um zwei verschiedene Ausdrucksweisen für den gleichen Begriff handeln dürfte; denn gemeinsame Abstammung kann ja praktisch nichts andres bedeuten als Abstammung von einer Menschengruppe, die früher schon ein völkisches [!] Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt hat, und Geschichte ist wegen dieses Zusammengehörigkeitsgefühls gemeinsame Geschichte. Von grundlegender Bedeutung im Rahmen der Geschichte ist die Erinnerung an gemeinsam bestandene Bedrohungen,…“[18]

Mit anderen Worten: wessen Großvater im Kessel von Stalingrad eingeschlossen, und wessen Mutter in Dresden dem Bombenhagel ausgesetzt war, ist Deutscher, wie seine Eltern, mit denen er sich 1990 gemeinsam über den Fall der Mauer freute, weil sie auch für ihn fiel, und der heute erkennt, dass die Kopftücher alles verdecken mögen, nur kein deutsches Gesicht. Nun wird ein Einzelner nicht allein dadurch zum Träger der Geschichte seines Volkes, dass er in seiner biologischen Ahnenreihe steht – eine solche Reduktion wäre Zoologie –, sondern dass er auch geistig Teil dieser Geschichte ist. Instrument, sie ihm zu vermitteln, ist der nationale Mythos. Hierunter seien historische und sagenhafte Ereignisse zu verstehen, in denen in paradigmatischer Weise Wesen und geistiger Betsand einer Nation deutlich werden.[19] Es handelt sich dabei nicht um intellektuelle, sondern mentale Vermittlung, dass also um ein Beispiel zu geben, ein Deutscher die Gründung des Deutschen Reiches nicht nur als geschichtliches Datum kennt, welches politische Voraussetzungen und Folgen hatte, sondern als Teil seines eigenen Selbstbewusstseins, das Bedeutung für sein eigenes Denken und Fühlen erlangt. Nur als zwei weitere Beispiele von vielen wären die Völkerschlacht bei Leipzig 1813 zu nennen, und den Burgfrieden von 1914, das sogenannte Augusterlebnis, zu nennen, wobei es für die mythische Überlieferung nicht auf militärhistorische Details noch, sondern auf die Tatsache der Einigkeit in einem Selbstbehauptungskampf, die die nationale Freiheit und Weiterexistenz garantierte. Durch die genanten Ereignisse werden Einigkeit und Kampf, und am besten Sieg versinnbildlicht.[20] Zum gleichen Volk gehört somit, wer von den selben Mythen durchdrungen ist. Auch für übervölkische Gemeinschaften bestehen sinnbildende Mythen, so etwa der Sieg am Kahlen Berge vor Wien, als es der abendländischen Christenheit unter Prinz Eugen gelang, den türkischen Eroberungsgelüsten die entscheidende Niederlage beizubringen, der zum Mythos der Selbstbehauptung wurde, ein Mythos, den neu zu beleben für Europa dringlicher nötig wäre als alles andere.

Aus dem Gesagten geht im übrigen hervor, dass ein Mensch erst durch Zugehörigkeit zum Volk sein höheres Menschentum entfaltet, da er nur so der volkskonstituierenden und damit der geistig-kulturellen Wesenszüge teilhaftig wird, wohingegen er bei Ausleben des in der Bundesrepublik geltenden Leitmaßstabes des Individualextremismus sich aus allen sinnstiftenden menschlichen und kulturellen Bezügen verabschiedet. Walter Flex schreibt:

„Ich glaube, dass die Menschheitsentwicklung ihre für das Individuum und seine innere Entwicklung vollkommenste Form im Volk erreicht, und dass der Menschheitspatriotismus eine Auflösung bedeutet, die den in der Volksliebe gebundenen persönlichen Egoismus wieder freimacht und auf seine nackteste Form zurückschraubt.“[21]

Ähnlich vielschichtig wie der Begriff Volk ist der Begriff Heimat. Er kann in einem unspezifischen Sinne verwendet werden, der über die geographische Bedeutung nur wenig hinausgeht. Die Vertreter der Weltoffenheit würden in diesem Sinne sagen, Heimat sei dort, wo der „Mensch“, die einzig zulässige Bezugsgröße ihrer Denkweise, sich wohl fühlt, wo er seine Wohnung, seine Freunde, seinen Freizeitspaß hat. Anknüpfungspunkte sind dann nurmehr regionale Spezifika, die sich sogar in der lokalen Biergröße niederschlagen bzw. erschöpfen kann.[22] Eine solche Heimat steht in einem eng begrenzten Umfeld jedem zu. Das berühmte kölsche Veedel ist Heimat aller 78 Nationen, die dort „zu Hause“ sind. Die Lindenstraße ist dann gleichermaßen die Heimat von Ali und Kevin. So richtig diese mikrokosmische Definition im Einzelfall sein mag, so zwingend entkleidet sie Heimat ihres geschichtlichen und schicksalhaften Gehalts, den sie aufweist, wenn man sie als Bezugsgröße zu Volk ansieht. Genau das ist von den Multikulturalisten gewollt. Die sprachliche Verbindung von Volk und Heimat in dem nordrhein-westfälischen Verfassungsartikel legt allerdings eine inhaltliche Verbindung nahe, mit dem Tenor, dass die dort genannte Heimat die Heimat des Volkes ist. (Etwas unschlüssig verhält sich der bereits erwähnte Kommentar, der Nordrhein-Westfalen und darüber hinaus ganz Deutschland als Heimat gelten lässt.[23])

Als solches ist sie der Raum, in dem das Volk seine Geschichte und seine Kultur entwickelt. Damit ist Heimat das notwenige Komplement zu Volk. Auch hier kann man zunächst recht banal an die Landschaft, auch abstrakt, denken, in der ein Volk seit Generationen lebt und seine Identität entfaltet: die Weiten Ostpreußens, der Rhein, der deutsche Wald. Schnell wird aber deutlich, dass die geographische oder sonst wissenschaftliche Beschreibung nicht erschöpfend ist. Heimat ist vielmehr der Ort, an den Menschen nicht funktional sondern emotional gebunden sind. Man lebt aus ihr und für sie. Mit ihr verbinden sich Erinnerungen, und zwar nicht nur die eigenen, sondern auch die der Vorfahren. Sie entfaltet somit gleichsam wie das Volk und seine Mythen das überzeitliche Moment, das die Vergänglichkeit überwindet und schafft Halt im Fixpunkt des Ortes. Das ist weit mehr als der Wohlfühlfaktor, den die Ideologen der Auflösung gerade noch zulassen. Heimat ist die Kirche, in der schon die Eltern und Großeltern getraut wurden. Heimat ist der Baum, der seit zweihundert Jahren an derselben Stelle steht, der Berg, an dem seit jeher das Leben eben dieses Volkes sich vollzog. Dementsprechend ranken sich unzählige Dichtungen und Lieder um die Heimat, wird sie besungen und gepriesen. Unter dem Gesichtspunkt der Heimat wird der deutsche Wald zum Ruhepol, zur Sehnsuchtslandschaft, die für seelische Tiefe, für Weltabgewandtheit und Entrückung steht, beispielhaft zum Ausdruck gebracht in den Bildern Caspar David Friedrichs. Bei Eichendorff lesen wir:

„Abendlich schon rauscht der Wald
Aus den tiefsten Gründen,
Droben wird der Herr nun bald
An die Sternlein zünden.
Wie so stille in den Schlünden,
Abendlich nur rauscht der Wald.

Alles geht zu seiner Ruh.
Wald und Welt versausen,
Schauernd hört der Wandrer zu,
Sehnt sich recht nach Hause.
Hier in Waldes stiller Klause,
Herz, geh endlich auch zur Ruh.“

Wald wird hier zum Gegensatz von Welt, zur Abkehr von deren hektischen und kommerziellen Getriebe. In seinem politischen Gedicht „Klage“ wird der Wald zum Refugium vor den gesellschaftlichen Missverhältnissen der modernen Zeit, namentlich dem unechten Regiment der Falschen:

„Oh, könnt ich mich niederlegen,
Wohl in den tiefsten Wald
Zu Häupten den guten Degen
Der noch von den Vätern alt

Und dürft von allem nichts spüren
In dieser dummen Zeit
Was sie dort unten hantieren
Von Gott verlassen zerstreut

Von fürstlichen Taten und Werken
Von alter Ehre und Pracht
Und was die Seele mag stärken
Verträumen die ganze Nacht

Denn eine Zeit wird kommen
Da macht der Herr ein End
Da wird den Falschen genommen
Ihr unechtes Regiment“

Verharren diese Metaphern noch im Abstrakten, zeichnet „Der Harz“ von Novalis die unmittelbare Beziehung zwischen Landschaft als Heimat und Volk, anschaulich in der zweiten Strophe: 

“Weit im deutschen Gefild sieht man der Felsen Haupt
Spät im Sommer vom Schnee noch schwer
Tiefer Fichten bekränzt düster vom Eichenwald,
Der vor Zeiten den Deutschen hehr.“

In der Schlußstrophe erhält das Gedicht einen dezidiert politischen Klang:

„Deutsche Freiheit so wert, werter dem Biedermann
Als des zinsenden Perus Gold
Stehe furchtbar und hehr und unerschütterlich
Wie dein donnerndes Felsenhaupt.“

Überhaupt wird das mythische, völkische Element mit der zunehmenden Konkretion des Ortes selbst griffiger. So gilt der Rhein als deutscher Schicksalsfluss, um den sich der ewige Kampf mit den Franzosen rankt. Gleichzeitig entfaltet er übersinnliche Kräfte, die den Menschen in einen schicksalhaften Bann ziehen, wenn die Jungfrau Loreley ihr goldenes Haar zurechtkämmt. Das Gedicht Heinrich Heines dürfte zu den berühmtesten deutschen Liedern überhaupt gehören. So steht der Annaberg als Sinnbild für die Abwehr polnischer Insurgenten[24], und dokumentiert die Marienburg den Kampf des Deutschen Ordens, der die Wurzel für die preußische Staatswerdung und somit des deutschen Staatsverständnisses wurde. Es ist gewiss kein Zufall, dass diese schicksalsbehafteten Orte dem deutschen Volk im Nachgang des Zweiten Weltkrieges entrissen wurden, so wenig wie es Zufall ist, dass andere geschichtsmächtige und –trächtige Orte im Bombenterror vernichtet wurden; die Residenzstadt Würzburg noch am 17. März 1945, Potsdam am 14. April, kurz nach der Vernichtung des fachwerklichen Kleinodes Nordhausen am 3. und 4. April und so viele weitere. Dass mit diesen Angriffen nicht mehr die Kampfmoral der Arbeiter getroffen werden sollte sofern das jemals der Fall gewesen sein sollte, liegt auf der Hand. Stattdessen ging es darum, die in Stein gehauene Geschichte zu vernichten und das deutsche Volk von seinen heimatlichen Wurzeln abzuschneiden.

Doch andere, wie die Wartburg, die Paulskirche, der Reichstag, die Frauenkirche sind erhalten oder wieder aufgebaut und in unserer Hand geblieben und könnten so als Kristallisationspunkt des Wir-Bewusstseins im Sinne Roman Herzogs dienen, wie auch das Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald. Dass der systemgeprägte Einwohner der BRD von dem Genius loci solcher Orte nicht erfasst wird, ist das eine; das andere ist, dass es schier außerhalb der Vorstellungskraft liegt, dass ein arabischer Flüchtling mit seinen Kopftuchgespielinnen in irgend einer Weise emotional berührt werden könnte, wenn er die Wartburg hoch über Eisenach im Glanz der rotglühenden Abendsonne erstrahlen sieht. 

Heimat ist somit wesentlich auch der Ort, an den die Mythen des Volkes gebunden sind, wo sie sich verorten. Diese bestimmten Orte, wie bspw. die eben aufgezählten, (und nicht nur allgemein Deutschland) werden von den Mythen zu heiligen Orten erhöht, die dadurch untrennbarer Bestandteil der geschichtlichen Heimat werden. Da jeder Einzelmensch Teil des Volkes ist und als solcher Anteil an den Mythen hat, werden durch ihre Vermittlung also auch alle Orte Heimat, die nichts mit der unmittelbaren Region des eigenen Lebens zu tun haben. Stattdessen bezieht die geschichtliche Heimat die schicksalhafte Erde ein, die das nationale Werden geprägt hat und an der das Volk seine Erinnerungskultur pflegt. Heimat als Sinnbild. Zur deutschen Heimat gehört dann auch für den Kölner das Brandenburger Tor und für den Düsseldorfer der Kölner Dom. Die Geschichte kennt vielleicht nur ein Beispiel, in dem es einem Volk gelungen ist, ohne seinen Heimatboden zu überleben: die Juden. Ursächlich hierfür dürfte ihre ausgeprägte Religiosität und ihr noch ausgeprägteres Sonderbewusstsein als auserwähltes Volk sein, nicht zu vergessen auch die strengen Abstammungsregeln. Trotzdem spielte der mythische Faktor der Heimat Palästina im Denken der Juden immer eine zentrale Rolle, um die Jahrtausende alte Diaspora zu überwinden. Das viel strapazierte Bild vom rastlosen Juden findet ja eben seinen mythischen Grund darin, dass der Heimatboden, den er beanspruchte, und in und an dem er Ruhe und Kontemplation hätte finden können, nicht in seiner Hand war.[25]Der „Ort“ ist also selbst dann ein unverzichtbarer Bestandteil der Heimat, wenn man ihn „derzeit“ nicht in Besitz hält. Der Freudentanz israelischer Soldaten an der Klagemauer, nachdem sie im Sechs-Tage-Krieg 1967 das vollständige Jerusalem erobert hatten, symbolisierte das anschaulich.[26]

Zusammenfassend ist Heimat der Ort der geistigen und räumlichen Ge- und Verbundenheit, der Halt und Schutz bietende Lebens- und Denkraum. Heimat, wie Ort überhaupt, ist damit der Gegenbegriff zum Paradigma der westlich multikulturellen Doktrin, die von Freizügigkeit, Ungebundenheit und Beliebigkeit geprägt ist. Der Ort soll bei ihr deshalb mitsamt aller seiner spezifischen Bezüge ganz in der Universalität aufgehen, zu einem reinen Standort verkommen. Als solcher verliert er seine Einzigartigkeit und sinkt herab zu einer kalkulierbaren Größe für Investitionsentscheidungen.[27] Indem die Landesverfassung von Nordrhein-Westfalen, immerhin des größten deutschen Bundeslandes, „Volk und Heimat“ als etwas hinstellt, dem von Staats wegen Liebe abzuverlangen ist, fordert sie die globalen Zwangsvorstellungen der bundesdeutschen Ziffernwelt mit ihrer finanzkapitalistisch geprägten Ubiquität, deren Überall ein Nirgends ist, in ihrem Kern heraus.

Wie sich nun die Liebe zu Volk und Vaterland gestaltet, ist schön an der reichhaltigen vaterländischen Dichtung abzulesen. Zu den bekanntesten Verfassern solcher Werke zählt Ernst Moritz Arndt. Er dichtete in seinem Lied „Sind wir vereint zur guten Stunde“: 

„Wem soll der zweite Wunsch ertönen?
Des Vaterlandes Majestät
Verderben allen, die es höhnen
Glück dem, der mit ihm fällt und steht
Es geh durch Tugenden bewundert
Geliebt durch Redlichkeit und Recht
Stolz von Jahrhundert zu Jahrhundert
An Kraft und Ehren ungeschwächt“

Der Arbeiterdichter Heinrich Lersch textete in seinem „Soldatenabschied“, dessen jeweils letzte Zeile aller Strophen die berühmt gewordenen Worte „Deutschland muss leben, auch wenn wir sterben müssen“, heißen, folgende Zeilen:

„Wir sind frei, Vater, wir sind frei!
Tief im Herzen brennt das heiße Leben,
Frei wären wir nicht, könnten wirs nicht geben.
Wir sind frei, Vater, wir sind frei!
Selber riefst du einst in Kugelgüssen:
Deutschland muß leben, und wenn wir sterben müssen!

Uns ruft Gott, mein Weib, uns ruft Gott!
Der uns Heimat, Brot und Vaterland geschaffen,
Recht und Mut und Liebe, das sind seine Waffen,
Uns ruft Gott, mein Weib, uns ruft Gott!
Wenn wir unser Glück mit Trauern büßen:
Deutschland muß leben, und wenn wir sterben müssen!“

Während Arndt das Wort „Liebe“ expressis verbis auf das Vaterland bezieht, bringt sie Lersch metaphorisch zum Ausdruck, wenn er das heiße Brennen des Lebens benennt, jenes Lebens, das es einzusetzen gilt, wenn das Vaterland es einfordert. Damit ist der Leitgedanke der Zeilen benannt: das Opfer; und zwar des höchsten Gutes, des eigenen Lebens. Mit solchem Opfer hebt sich die Liebe zum Vaterland, zu Volk und Heimat von jeder anderen Liebe ab, die zwar auch ihre Opfer fordert. Nirgends aber ist die Opferbereitschaft zum Tode ein solcher Inbegriff der Liebe, wie im Schwertgang für das eigene Land. Auch diesen Gedanken haben wir schon bei Renan gesehen, der sogar noch deutlicher wird:

„Eine Nation ist also eine große Solidargemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu bringen gewillt ist.“[28]

In Zeiten glücklichen Friedens wird das nicht virulent, aber in Zeiten des Kampfes, wo das Vaterland davon lebt, dass die Liebe zu ihm praktische Gestalt annimmt, muss das in der elementarsten Form, die denkbar ist, geschehen. Die Bereitschaft zum eigenen Tod ist dann nicht die Ausnahme, die auch in der Liebe zu einem Menschen gefordert sein kann, sondern die condicio sine qua non der Vaterlandsliebe. Man kann daher sagen, das Opfer ist die Idee der Vaterlandsliebe. Neben Gedichten finden wir sie als literarischen Gegenstand von Tagebüchern und Romanen, von den Stahlgewittern Ernst Jüngers, über den Wanderer zwischen den beiden Welten von Walter Flex, der Armee hinter Stacheldraht Erich Edwin Dwingers bis zu den Reitern in deutscher Nacht von Hanns Heinz Ewers oder den Erinnerungen von Ernst von Salomon (Die Geächteten, Der Fragebogen) oder Heinrich Brüning. Dabei wird nicht nur das Ringen mit dem äußeren sondern auch jenes mit dem inneren Feind beschrieben, das genau so, oft noch erbitterter, um den Bestand und die Ausrichtung des Landes geführt wurde, wobei es gegen Kräfte ging, die sich erklärtermaßen dem Verrat verschrieben hatten, wie in den Separatistenkämpfen im Rheinland, die in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts hohe Opferzahlen forderten.

Das heißt natürlich nicht, dass es nicht auch subtilere Formen der tätigen Liebe zu Volk und Heimat gibt, als den Kampf aufs Blut, solche die sich in vielfältigem täglichen Einsatz der Bürger um das Gemeinwohl zeigen, von der Brauchtumspflege über sonstige ehrenamtliche Arbeit bis hin zu den wenigen Politikern, die tatsächlich das Wohl Deutschlands bei der Ausübung ihres Amtes mitbedenken mögen. Doch wer von ihnen würde sagen, ich tue es um des Vaterlandes willen? Vielleicht findet sich der eine oder andere unter den Sportlern, die für Deutschland bei den Olympischen Spielen oder der Fußball-WM antreten. Man sollte daher nicht jede Ehrenrunde mit der Deutschlandfahne im Stadion als Marketing-Trick abtun, und auch den WM-Patriotismus in Gestalt von schwarzrotgoldnen Wimpeln am Autodach nicht vorschnell verächtlich machen. Die deutsche Seele sucht auch siebzig Jahre nach dem 8. Mai nach Mitteln, zu gesunden. Nicht das schlechteste ist es, England aus dem Wembleystadion zu schießen (wobei natürlich auch in diesem Becher ein reiches Maß an Wehrmut vorhanden ist: wer glaubt schon, ein Mezut Özil könnte jemals von deutschen Mythen durchdrungen sein…).

Im Jahre 2016 ergeben sich allerdings ernste Zweifel, ob dieses Volk in seiner konkreten Erscheinung Liebe überhaupt verdient. Sie reichen so weit zu fragen, ob es ein deutsches Volk überhaupt noch gibt, ob wir es nicht viel mehr mit einem BRD-Einwohnergerümpel zu tun haben, das unter der Philosophie des Darmes und dem Lebensmotto „Spaß und Fraß“ vor sich hin vegetiert, weil es auf dem langen westlichen Irrweg in die atomistische Sackgasse zum Allerweltsmenschen alle anderen Nationen zu übertrumpfen scheint.[29] Es hat sich ein von den Phrasen der globalisierten Welt erfüllter Archetypus herausgebildet, der die von Arne Schimmer beschriebene Entortung zur Gänze auslebt.

„Er ist kinderloser Single und grenzenlos mobil. Die ihm abverlangte und von ihm gern gelebte Unabhängigkeit machen ihm Bodenhaftung und Vaterland notwendig fremd. Überall zu Hause hat er keine Heimat.“[30]

Darüber hinaus ist der Deutsche von einer spezifischen Seinsvergessenheit befallen. Hans Dietrich Sander stellt in seinem Spätwerk “Der ghibellinische Kuss“[31]ernüchtert fest:

„Die Deutschen sind tief gesunken. Sie haben sich nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches den fremden Mächten, die über sie Gewalt gewannen, in allen Dingen unterworfen. … Die Deutschen haben ihre eigene Art aufgegeben, ihren Volksgeist, ihre Sitten ihr Rechtsempfinden, ihre soldatischen Tugenden, ihre musischen und philosophischen Dispositionen, ihre religiöse Subjektivität.. … Die Deutschen wollen auch nichts mehr wissen von der geschichtlichen Rolle, die sie in der Mitte Europas immer gespielt haben und die sie wegen ihrer geographischen Lage und ihrer Fähigkeiten immer spielen mussten.“

Schließlich kommt er zu dem bitteren Schluss:

„Die Deutschen wurden persönlich feige und politisch willenlos, kaschiert mit einem forschen Egoismus.“

Für diesen „Deutschen“ hat Thor von Waldstein den treffenden Ausdruck Homo bundesrepublicaniensis geprägt[32], den als Deutschen zu bezeichnen, man bisweilen Probleme hat, da er alles vergessen hat, was dieses Volk einst groß gemacht hat. Ähnlichen Sinnes urteilte schon Treitschke im Blick auf die Jahrzehnte nach dem Westfälischen Frieden:

„Die Fäulnis eines solchen Staatslebens begann bereits den rechtschaffenen Gradsinn des Volkscharakters zu zerstören. Ein Menschenalter voll namenloser Leiden hatte den bürgerlichen Mut gebrochen, den kleinen Mann gewöhnt, vor den Mächtigen zu kriechen. Unsere freimütige Sprache lernte in alleruntertänigster Ergebenheit zu ersterben und bildete sich jenen überreichen Wortschatz von verschnörkelten knechtischen Redensarten, den sie noch heute nicht abgeschüttelt hat.“

Wem fällt bei diesen Worten nicht die Heuchelei von Schuld und Befreiung und anderer sprachlicher Unterwerfungen ein, die uns zeigen, um wie vieles wirksamer materielle und geistige Korruption als pure machtpolitische Unterdrückung sind. In der Tat, beim Blick auf die Stürme und Fluten, die im Jahre Hundert nach den großen Schlachten von Verdun und Skagerrak den Volkstod im Gepäck führen, sieht man ein Häuflein charakterlicher Zwerge, die schulterzuckend hinnehmen, dass ihnen zu schaffen aufgebürdet und vorgegauckelt wird, was keiner schaffen wollen kann. Es ist nicht nur kein Fall eines Bundestagsabgeordneten bekannt, der die CDU verlassen hätte, weil er die Flutungspolitik nicht mittragen will, sondern auch keiner eines Bürgermeisters, der sich in Anwendung des Widerstandsrechts aus Art. 20 Absatz 4 GG gegen die Hochverratspolitik der Bundesregierung geweigert hätte, Asylbegehrer in seiner Gemeinde aufzunehmen. Schließlich ist kein Fall bekannt, da den einen oder den anderen solcher Honoratioren konsequente Bürger dazu gezwungen hätten. Und wenn es in Düsseldorf eine nationale Aktivistin geschafft hat, 300 Leute zu der Kundgebung DÜGIDA auf die Straße zu bringen, dann standen bis zu 5000 Systemknechte auf der anderen Seite, die „refugee welcome“ intonierten. Daran wird klar: Nicht Merkel ist das Problem, sondern ein Nichtvolk, das Merkel duldet. Es ist schwer angesichts dessen nicht in Bitternis zu verfallen. Ein solches Phänomen ist nicht neu. Martin Niemöller, der nachmalige Mentor der bekennenden Kirche, im Ersten Weltkrieg ein hochdekorierter U-Boot-Offizier, wurde nach der Niederlage 1918 und der Novemberrevolution von einer tiefen Depression ergriffen. In seinem Erinnerungswerk „Vom U-Boot zur Kanzel“ schreibt er:

„Ich selber kam mir in den ersten Kieler Tagen in meinem eigenen Vaterland wie ein Fremder vor, so schlimm wie es hier wirklich war, hatte ich mir den Gesinnungswandel doch nicht vorgestellt. Und nirgends sah man damals einen Kristallisationspunkt, wo sich national denkende Männer fanden, um im Unglück zusammenzustehen und Hand anzulegen.“[33]

Wenige Zeilen später wird er noch direkter:

„Und wie stand ich eigentlich zu meinem Volk? Was ich in diesem Vierteljahr in Kiel und in Elberfeld, in Westerkappeln und in Berlin gesehen hatte, das hatte mich mit tiefer Sorge und Bitterkeit erfüllt.“[34]

Derartige Zitate bezeugen die schmerzliche Erkenntnis, dass eben nicht nur das jeweilige politische System verrottet sein kann, sondern dass sich die Fäulnis in den Volkskörper vorgefressen hat. Die Herrschaft der Minderwertigen gründet auf Minderwertigkeit; wenn schon nicht des Volkes so doch im Volk. Es ist ein Volk, das seine Mythen verloren hat, das sich nurmehr als Gesellschaft versteht. Natürlich kann man mit Martin Luther im Angesichts des Unterganges sein persönliches Apfelbäumchen pflanzen. Doch wer geht unter? Ein Selbstmörder, der Hass und Galle speit, wenn man ihn vom Suizid abhalten will? Ein Geistesgestörter? Einsatz für Volk und Heimat enden in der real existierenden BRD nicht mit Lob und Anerkennung, sondern unter der Häme der Gaffer mit Gerichtsverfahren wegen Volksverhetzung (im entsprechenden Paragraphen 130 des Strafgesetzbuches darf das Volk noch existieren), oder Bildung einer krimineller Vereinigung (§ 129 StGB), mit abgefackelten Autos, farbbeschmierten Wänden und anderen schönen Überraschungen, die sich die vom Staat verhätschelten Antifaschisten ausdenken. Angesichts dessen scheint es nicht besonders naheliegend, sich dem Erziehungsziel des Art. 7 LV NRW zu nähern. Vielmehr scheint der Blick auf die Gegenwart mehr Gründe bereitzuhalten, ein solches Einwohnergewimmel zu verachten, als es mit Sympathie zu bedenken.[35] Doch gibt es Gründe, es nicht dabei zu belassen:

Denn zum einen verdient unsere Liebe die Heimat, die vielgeschundene, die Zeugnis ablegt für die Größe eines Volkes, das einmal ein Volk war, ein stolzes Volk, das Errungenschaften hervorbrachte, wie kaum ein zweites, eine Heimat die ihren Charakter dadurch trägt, dass sie eben eine deutsche Heimat ist mit ihrer Landschaft, ihren deutschen Bauten, Flüssen und Seen. Da wir das, was wir wurden, aus ihr sind, schulden wir ihr trotz des Volkes den Einsatz, nicht aus Liebe zum Volk sondern aus Pflicht zur Heimat.

Zum anderen sah man zu allen Zeiten und sieht man auch heute die wenigen Mitstreiter, die sich nicht abfinden wollen mit dem Niedergang und mit uns vereint sind in der Unbill, die sie sich damit zuziehen, die trotz allem in bewundernswerter Weise weitermachen, nicht aufgeben sondern unentwegt daran arbeiten, dass die Heimat doch noch einmal eines fernen Tages ein Volk sehen könnte. Dieses Potential, das in dem Volk steckt, wenn es seine Mythen wiederfindet und die Lügen der falschen Propheten als solche erkennt und abstreift, ist es, dem wir wenigstens empathisch zugeneigt sind. Schließlich vernehmen wir auch Hoffnungsschimmer, dass diese Wenigen nur die Sichtbaren sind, hinter denen sich Unsichtbare verbergen: am Stammtisch, am Arbeitsplatz, in Dresden, wo die Herrschaftsclique am Tag der Deutschen Einheit angemessen begrüßt wurde, im Internet. Dass Heiko Maas Gift und Galle sprüht, wenn facebook nicht nach seiner Pfeife tanzt, hat seine Gründe.

Bei alldem können wir von einem zehren, was nicht nur eine ewige Stimme in uns sagt, sondern was die Lichtgestalten im Landtag noch heute nicht aus der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen zu streichen wagen: nicht nur das Gesetz, das Recht steht auf unsrer Seite.

[1]Nichts anstelle vom lieben Gott, Der Spiegel Nr. 3/1969, online: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45845435.html, eingesehen am 09.10.2016

[2]Wolfgang Löwer/Peter Tettinger, Kommentar zur Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, München u.a., 2002, Art. 7, Rn. 47. So auch Andreas Heusch/Klaus Schönenbroicher, Die Landesverfassung Nordrhein-Westfalen, Kommentar, Siegburg, 2010, S. 116. unter Berufung auf die jeweils gleiche Drittquelle.

[3]Landtagsdrucksache 16/12350, online: https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD16-12350.pdf, eingesehen am 10.10.2016.

[4]Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Kronberg/Ts., 1976, Kapitel XIII.

[5]Jellinek, a.a.O., Kap. VI.3, S. 144/45.

[6]Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, 2. Aufl., München und Berlin, 1911, S.1

[7]Roman Herzog, Allgemeine Staatslehre, Frankfurt/M, 1971, S. 43.

[8]Reinhold Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 12. Aufl., München, 1994, § 11, Vorbem., S. 71.

[9]A.a.O., Gliederungspunkt 4, S. 74.

[10]Hier entnommen aus der Internetfassung: http://www.comlink.de/cl-hh/m.blumentritt/agr251s.htm, eingesehen am 23.10.2016. 

[11]Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, Zweites Buch, Kapitel 9, zitiert nach UTB-Taschenausgabe, Basel, Stuttgart, 1977, S. 111.

[12]Vom Geist der Gesetze, Buch XIX, Kap. 4. Hier zitiert nach UTB-2. Aufl. Tübingen, 1992, S.413.

[13]Statt aller: Verfassungslehre, 8. Aufl., Berlin,.1993, § 1, S. 3 (das ist die erste Seite des Textes).

[14]Worüber die meisten Quellen schweigen. Einige Hinweise gibt der Historienroman „Der Traum der Vernunft“ von Michael Schneider, 2. Aufl., Köln, 2007, S. 507.

[15]Schneider, S. 477.

[16]Lothar Schröder, Hass ohne Grenzen, Rheinische Post, 22.10.106, S. A 2.

[17]http://www.sezession.de/30009/es-lebe-der-volkstod.html, abgerufen am 26.10.2016.

[18]Herzog, a.a.O.

[19]Wolfgang Dvorak-Stocker, Nationale Mythen, Neue Ordnung II/2016, S. 36ff., hier. S. 36.

[20]Zum Ganze Dvorak-Stocker, ebenda.

[21]Walter Flex, Wanderer zwischen beiden Welten, 407. – 419. Aufl., o.J., S. 100f..

[22]Der Kleinteiligkeit ist hierbei keine Grenze gesetzt: Unter dem Stichwort „Heimat genießen“ brachte die Rheinische Post am 22.10.2016 einen Bericht über die weltweite Verbreitung Düsseldorfer Altbiere: „Alt in aller Welt“, RP, S. D 2.

[23]Löwer/Tettinger, a.a.O., Rn. 48.

[24]Kaum ein Ort war für die territoriale Selbstbehauptung des deutschen Volkes nach dem Ersten Weltkrieg von vergleichbarer Symbolkraft. Dort konzentrierten sich die Freikorpskämpfe, die anschließend vielfach Eingang in die nationalrevolutionäre Literatur fanden, z.B. beim heute nahezu vergessenen Hanns Heinz Ewers, Reiter in Deutscher Nacht, Stuttgart/Berlin, 1932, Kapitel I u. II. Aber auch hochrangige Vertreter des Liberalismus wie der spätere FDP Vorsitzende und Bundesminister Erich Mende schrieben darüber: Was sagt der Annaberg, in: Rudolf Pörtner (Hg.), Alltag in der Weimarer Republik, veränderte Taschenbuchausgabe, München, 1993, S.392 – 403.

[25]vgl. dazu Hans Dietrich Sander, Die Auflösung aller Dinge, München, o.J., S. 43, wo er die Ortlosigkeit der Juden thematisiert und die Sinnlosigkeit einer abstrakten Existenz jenseits von Ort und Zeit problematisiert.

[26]Instruktiv der Artikel „Die 60er Jahre und der Sechs-Tage-Krieg“ auf der Internetseite der Bundeszentrale für politische Bildung, wo die Klagemauer als der Juden heiligster Ort bezeichnet wird, http://www.bpb.de/internationales/asien/israel/45052/sechs-tage-krieg, abgerufen am 20.10.2016. Dort ist auch das Foto israelischer Fallschirmjäger abgebildet, die mit verklärtem Blick nahezu andächtig vor der Klagemauer verharren. 

[27]Arne Schimmer, Das Gesetz des Ortes in: Heiko Luge (hg) Grenzgänge, Festschrift für H.D. Sander, Graz, 2008, S. 128.

[28]A.a.O.

[29]Thor v. Waldstein, Das falsche Wir, Sezession Nr. 65, S. 11.

[30]Björn Clemens, Abendbläue, 2. Aufl., Mengerskirchen, 2010, S. 197.Vgl. auch die Kapitel „Die Zahl“ und „Das Kapital“. 

[31]Hans Dietrich Sander, Der Ghibellinische Kuss, Neustadt/Orla, 2016, S. 9f.

[32]Thor v. Waldstein, Der Homo bundesrepublicaniensis, in: Gesellschaft für freie Publizistik (Hg.), Kongress-Protokoll 1989, Berg, 1990, S. 79ff., S. 81.

[33]Martin Niemöller, Vom U-Boot zur Kanzel, Berlin, 1934, S. 142.

[34]S. 150.

[35]Oder, wie es von Waldstein ausdrückt: „Die Liebe zu Deutschlands Vergangenheit und Zukunft ist gleichbedeutend mit dem Hass auf die bundesrepublikanische Gegenwart., Homo bundesrepublicaniensis, a.a.O., S. 82.

Schreibe einen Kommentar